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100 Jahre Michelin-Führer Deutschland

2010 ist für Miche­lin in Deutsch­land ein Jubiläum­s­jahr: Vor 100 Jahren erschien die erste Aus­gabe des MICHE­LIN-Führers Deutsch­land, damals noch zusam­men mit den Reisetipps für die Schweiz.

In der Fol­gezeit sollte der Band eine wech­selvolle Geschichte erleben, die sowohl den Wan­del in Gas­tronomie, Ess- und Reisege­wohn­heit­en als auch die poli­tis­che Entwick­lung in Deutsch­land und Europa wider­spiegelt.

Ser­vice für Mobil­ität statt Gas­tronomieführer
Als 1910 der MICHE­LIN-Führer “Deutsch­land und Schweiz” her­auskam, war sein Konzept in Frankre­ich bere­its seit zehn Jahren etabliert und ergänzte den flo­ri­eren­den Han­del mit Reifen. Miche­lin begann mit dem Band, auch im dama­li­gen Deutschen Reich sein Image als Dien­stleis­ter für Mobil­ität aufzubauen. Das Unternehmen war damals ger­ade vier Jahre in Deutsch­land präsent: 1906 war die “Deutsche Miche­lin Pneu­matik Aktienge­sellschaft” in Frank­furt am Main gegrün­det wor­den. Damit kam das Geschäft von Miche­lin auch rechts des Rheins ins Rollen.

Von sein­er späteren Rolle als Hotel- und Gas­tronomieführer war der MICHE­LIN-Führer des Jahres 1910 noch weit ent­fer­nt. André und Edouard Miche­lin woll­ten mit dem “Guide Miche­lin” ursprünglich die Ver­bre­itung des Auto­mo­bils fördern und damit dem Reifen­markt Impulse geben. Dabei stießen sie in eine Mark­tlücke. Auf den deutschen Straßen verkehrten 1910 bere­its 50.000 Kraft­fahrzeuge. Doch die Ser­vice-Infra­struk­tur für Auto­mo­bilis­ten war noch äußerst dünn, Chauf­feure waren echte Aben­teur­er und Impro­vi­sa­tion­skün­stler. Kraft­stoff war beispiel­sweise oft nur in kleinen Por­tio­nen bei Apotheken oder Lebens­mit­tel­händlern erhältlich. Die Straßen waren vielfach wed­er beschildert noch asphaltiert und die Fahrzeuge sehr anfäl­lig. Die Panne gehörte zum Aut­o­fahrerall­t­ag. Ein prak­tis­ch­er Reise­helfer wie der MICHE­LIN-Führer kam hier wie gerufen.

Anleitung zum Reifen­wech­sel und Werk­stat­tadressen
Entsprechend deut­lich unter­schied sich der von der Deutschen Miche­lin Pneu­matik AG ver­legte MICHE­LIN-Führer von den heuti­gen Aus­gaben. Das “den Her­ren Auto­mo­bilis­ten” gewid­mete Buch enthielt unter anderem auf 37 Seit­en detail­lierte und illus­tri­erte Ratschläge zu Reifen­wech­sel und ‑repara­turen sowie zu den hier­für benötigten Miche­lin Werkzeu­gen. Hinzu kamen bei jedem aufge­führten Ort die Namen von Werk­stät­ten, Bat­terieladesta­tio­nen, Ben­zin- und Öldepots. Da in der Frühzeit des Auto­mo­bils die Fahrzeugbe­sitzer oder ihre Chauf­feure in der Werk­statt häu­fig selb­st Hand ans Fahrzeug leg­en mussten, gab der Band auch an, ob in dem betr­e­f­fend­en Betrieb eine Reparatur­grube vorhan­den war. Zudem wies er darauf hin, wo leere Miche­lin Press­luft­flaschen gegen volle umge­tauscht wer­den kon­nten – vor 100 Jahren ein unverzicht­bares und prak­tis­ches Hil­f­s­mit­tel, das den Gebrauch kraftrauben­der Hand­pumpen über­flüs­sig machte. Eingängige Sym­bole von Anfang an Bere­its 1910 bedi­ente sich der MICHE­LIN-Führer zur Infor­ma­tion der Leser eingängiger Sym­bole. Die Pik­togramme sind seit­dem ein Kennze­ichen des Guides gewor­den und spiegeln den Wan­del in Rei­sev­er­hal­ten, Tech­nik und Lebens­stan­dard wider. Während die Sym­bole der ersten Aus­gabe des MICHE­LIN-Führers Deutsch­land Auf­schluss über – heute selb­stver­ständliche – Kom­fort­merk­male wie Bad, Zen­tral­heizung und elek­trisches Licht gaben, ver­wiesen sie später auf Annehm­lichkeit­en wie Tele­fo­nan­schluss oder Fernse­her in den Zim­mern.

Heute ver­rat­en die Miche­lin Pik­togramme, ob ein Haus Kred­itkarten annimmt, einen schö­nen Park, Whirlpool, Ten­nis­platz oder einen Well­ness-Bere­ich bietet und ob den Gästen ein W‑LANAnschluss für den Inter­net­zu­gang zur Ver­fü­gung ste­ht.

Kom­pliziert, aber prak­tisch: Tipps für telegrafis­che Reservierung Ein Zeit­doku­ment, das heute schmun­zeln lässt, ist auch die Anleitung zur telegrafis­chen Zim­merbestel­lung mit­samt kom­pliziertem inter­na­tionalem Telegrafen­schlüs­sel. Der Begriff “ETAGENOFEN” bezog sich danach nicht etwa auf eine Heizgele­gen­heit auf dem Stock­w­erk, son­dern den Wun­sch nach Zim­mern in der vor­let­zten Etage. Auch das Wort “ARAB” war keine Abkürzung, son­dern stand für ein Zim­mer mit zwei Bet­ten.

Die Auswahl der Hotels selb­st nahm sich 1910 im Ver­gle­ich zu heute noch beschei­den aus. Bis heute geblieben ist ihre Klas­si­fizierung mit Häuser­sym­bol­en, verän­dert hat sich lediglich die Def­i­n­i­tion. Im MICHE­LIN-Führer Deutsch­land 1910 bedeuteten

 Michelin-Pictogramme

Ein weit­eres, heute nicht mehr ver­wen­detes Sym­bol mit Wein­glas und Gedeck stand für “Hotel der 6. Klasse = kleines Hotel oder Gasthof, wo man ohne große Ansprüche gut speisen kann”.

Angaben zu Stellplätzen und der Verpfle­gung des Chauf­feurs
Neben den Preisen für Zim­mer und Mahlzeit­en lieferte der MICHE­LIN-Führer auch Angaben zu den Kosten für die Verpfle­gung des Chauf­feurs. Außer­dem informierte er darüber, wie viele Stellplätze vorhan­den waren und ob das Hotel über eine Dunkelka­m­mer zum Entwick­eln von Fotografien ver­fügte. Hin­ter­grund: Vor 100 Jahren fotografierte ein Großteil der Reisenden mit Plat­tenkam­eras. Das belichtete Film­ma­te­r­i­al musste schnell­st­möglich entwick­elt wer­den. Seine Infor­ma­tio­nen bezog Miche­lin per Frage­bo­gen, der rund 40 Posten umfasste. Anonym arbei­t­ende Miche­lin Inspek­toren wie heute waren noch nicht im Lande unter­wegs. Restau­ran­tempfehlun­gen fan­den sich im MICHE­LIN-Führer Deutsch­land 1910 noch nicht. Diese waren erst­mals in der Frankre­ich-Aus­gabe 1923 zu find­en. Manche Hotels im MICHE­LIN-Führer Deutsch­land 1910 waren mit einem Stern gekennze­ich­net. Diese Häuser verpflichteten sich, keinen höheren Preis als den im Buch genan­nten Tarif zu ver­lan­gen.

Miche­lin sorgte auf diese Weise bere­its vor 100 Jahren für Sicher­heit bei der Reise­pla­nung und ver­lässliche Kosten. Im MICHE­LIN-Führer Deutsch­land 2010 wer­den die Tra­di­tion­shäuser, die schon in der Aus­gabe von 1910 gelis­tet waren, mit einem gold­e­nen Lor­beerkranz gekennze­ich­net sein.

Schon 1910 ein Marken­ze­ichen: detail­lierte Stadt­pläne
Die Ori­en­tierung auf der Reise erle­ichterten Stadt­pläne. Sie bestachen bere­its durch die typ­is­che detail­lierte Darstel­lung, die Miche­lin Karten bis heute ausze­ich­net. Neben Karten der großen Städte in zwei­far­biger Aus­führung am Anfang des Buch­es bot der MICHE­LIN-Führer im Text Pläne für weit­ere wichtige Städte. Ent­fer­nungskarten im großen Maßstab am Ende des Ban­des erlaubten es Fahrer und Pas­sagieren darüber hin­aus, sich auf einen Blick zu informieren, wie viele Kilo­me­ter sie noch zurück­zule­gen hat­ten. Beson­ders prak­tisch und ein enormer Fortschritt angesichts der Tat­sache, dass 1910 der Großteil der Auto­mo­bile kein festes Dach hat­te: Die ins Buch einge­bun­de­nen Karten flat­terten nicht unkon­trol­lier­bar im Fahrtwind herum.

Zur wertvollen Hil­fe für die Reise­pla­nung wurde der MICHE­LIN­Führer Deutsch­land auch durch Kom­mentare zur Straßen­qual­ität und detail­lierte Ent­fer­nungsangaben für die einzel­nen Aus­fall­straßen bei jedem aufge­führten Ort.

Gratis bei Miche­lin Nieder­las­sun­gen und Hotels erhältlich
Der MICHE­LIN-Führer Deutsch­land war anfangs bei den “Stock­isten” genan­nten Miche­lin Verkauf­s­nieder­las­sun­gen sowie bei den in der Aus­gabe aufge­führten Hotels, Auto­mo­bil­fab­riken und Auto­mo­bil­händlern kosten­los erhältlich. Anders als heute finanzierte sich das aufwendig recher­chierte Buch wie alle Aus­gaben der Rei­he durch Wer­bung. Meist han­delte es sich dabei um Anzeigen für Pro­duk­te und Büch­er rund ums Auto­mo­bil. Erst als der MICHE­LIN-Führer in Frankre­ich 1920 kostenpflichtig wurde, schränk­te das Unternehmen die Wer­bung zunehmend ein.

Von den mod­er­nen Titeln unter­schieden sich die ersten MICHE­LIN-Führer Deutsch­land auch durch den blauen Ein­band. Das typ­is­che Rot war damals exk­lu­siv dem MICHE­LIN-Führer Frankre­ich vor­be­hal­ten. Anson­sten hat­te jed­er Band seine eigene Farbe: Die Aus­gabe “Großbri­tan­nien” war vio­lett, “Spanien und Por­tu­gal” gelb sowie “Alpen und Rhein” mit den Nieder­lan­den, Bel­gien, den ober­i­tal­ienis­chen Seen und ab 1911 auch der Schweiz grün. Der Band “Län­der der Sonne”, der die Côte d’Azur, Kor­si­ka, Ital­ien, Nordafri­ka und Ägypten umfasste, erschien in Orange.

Der blaue Band kam bei den deutschen Auto­mo­bilis­ten sofort gut an. Bere­its 1911 erre­icht­en sämtliche gedruck­ten Exem­plare aufeinan­dergestapelt vier­mal die Höhe der Köl­ner Domtürme. Im sel­ben Jahr wurde das Buch exk­lu­siv zum MICHE­LIN-Führer “Deutsch­land” ohne die Schweiz.

1914: jäh­es Ende mit Aus­bruch des Ersten Weltkrieges
Im Jahr 1913 umfasste der MICHE­LIN-Führer acht Titel, die ein Gebi­et von Schot­t­land bis Nordafri­ka und von Irland bis Königs­berg abdeck­ten. Dem hoff­nungsvollen Start fol­gte das jähe Ende: 1914 brach der Erste Weltkrieg aus. Deutsch­land und Frankre­ich wur­den Kriegs­geg­n­er. Die noch junge Miche­lin Pneu­matik AG geri­et unter Zwangsver­wal­tung und musste die Arbeit nieder­legen. Statt eines Reise­hand­buchs für Auto­mo­bilis­ten druck­te Miche­lin 1915 in Frankre­ich eine Spezialaus­gabe “Alle­magne occi­den­tale” für das Mil­itär mit Angaben zu öffentlichen Gebäu­den, Kaser­nen, Fab­riken und Verkehr­swe­gen.

Erst 1925 nahm Miche­lin seine Aktiv­itäten in Deutsch­land wieder auf. Bis wieder ein MICHE­LIN-Führer Deutsch­land erschien, sollte es allerd­ings bis 1964 dauern.

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